11

»Denkst du jemals darüber nach, Grace?«, fragte Natalie drei Wochen später.

»Worüber?«

»Noch ein Kind zu bekommen.«

»Ich?«

»Was ist so komisch daran?«

»Entschuldige. Der Gedanke liegt mir im Moment nur so fern.« Sie stand in Mrs Carrs Küche am Herd und rührte in einem Topf, während sie zu Adam hinausschaute, der auf dem Rasen lag, und überlegte, ob sie an die Fensterscheibe klopfen und ihn bitten sollte, ihr eine Hand voll Basilikum zu bringen. Er würde seinen sonnengebräunten, muskulösen Körper in Bewegung setzen und mit seinen langen Beinen und seinem sexy Lächeln auf sie zukommen ... »Du könntest ohne weiteres noch eins kriegen«, spann Natalie den Faden weiter. »Du bist erst vierunddreißig, und Neil und Jamie sind aus dem Gröbsten raus und machen praktisch keine Arbeit mehr. Sie können dir sogar helfen, wenn das Baby da ist.«

Plötzlich war es das Baby, als wäre es bereits im Werden. »Ich glaube nicht, dass ich noch eins will.«

»Warum nicht? Wir könnten uns nachmittags treffen und gemeinsam in den Zoo gehen und so. Du könntest verhindern, dass ich durchdrehe. Bitte, bitte«, bettelte Natalie und strich mit den Händen über ihren riesigen Ballonbauch.

»Rosie!«

Drüben an der Tür war die zweijährige Rosie dabei, methodisch den Inhalt von Natalies Handtasche durch Mrs Carrs Katzenklappe zu schieben.

»Dann soll ich also dir zuliebe ein Baby bekommen, ja?«, sagte Grace.

»Und Ewan zuliebe. Ich wette, er hätte gern noch ein Kind.« Ewan hatte bei seinem Anruf aus Florida gestern Abend nichts von einem Kinderwunsch verlauten lassen. Im Gegenteil. Er hatte geklagt, dass er sich nach erwachsener Gesellschaft sehne, und daraus ließ sich schließen, dass er zumindest im Moment nicht den Wunsch hatte, neues Leben zu zeugen. Und das sagte Grace ihrer Freundin. »Du könntest ihn bestimmt überreden«, meinte Natalie, die nicht so schnell aufgeben wollte.

»Das kann sein - aber warum sollte ich?«

Natalie ließ sich verstimmt auf ihrem Stuhl nach hinten sinken. »Du hast erst vor ein paar Wochen gesagt, dass du nicht ausgelastet seist! Dass du daran dächtest, einen Malkurs zu besuchen.«

»Das war deine Idee - nicht meine. Ich will kein Kind mehr, Natalie.«

Sie hatte das nie laut ausgesprochen - vielleicht war die Entscheidung eben erst gefallen. Es war keine große Sache. Die Entscheidung hing einen Moment lang im Raum, schwebte dann davon und ließ Grace mit einem angenehmen Gefühl der Erleichterung zurück. Verantwortung abzulehnen gefiel ihr, dachte sie.

»Und was willst du dann?«, fragte Natalie in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie Grace für ein selbstsüchtiges Monster hielt.

»Natalie! Rosie hat es geschafft, den Kopf durch die Katzenklappe zu stecken. Wir wollen doch nicht, dass sie geköpft wird, oder?«, sagte Grace freundlich.

»Oh!« Natalie eilte ihrer Tochter zu Hilfe, und das gerade noch rechtzeitig, denn eine Sekunde später flog die Hintertür auf, und Julia kam, auf eine Krücke gestützt, hereingehumpelt.

»Wir haben noch zwei Gäste mehr zum Dinner, Grace.«

»O Julia!« Es waren jetzt schon vierzehn - die meisten davon saßen mit Adam draußen auf dem Rasen. Ihren Mienen nach zu urteilen hielten sie eine Art Kriegsrat ab. »Wenn Sie wollen, koche ich«, bot Julia fröhlich an, und Grace vermutete, dass sie das nur tat, weil sie genau wusste, dass sie nicht beim Wort genommen würde. Ihren bisherigen kulinarischen Leistungen nach war Julia in der Küche nicht gerade ein Ass. Das traf auch auf ihre übrigen hausfraulichen Fähigkeiten zu.

»Wo ist die zweite Krücke?«, erkundigte sich Grace.

»Nörgel, nörgel, nörgel«, sagte Julia kopfschüttelnd zu Natalie. »Etwas anderes höre ich von ihr nicht.«

»Ich habe mich verpflichtet, mich um sie zu kümmern«, hielt Grace ihr vor Augen. Das beinhaltete, dafür zu sorgen, dass Julia ihre Nachsorgetermine in der Ambulanz des Krankenhauses wahrnahm, ihre Medikamente einnahm und früh zu Bett ging. Sich um zwei lebhafte Zehnjährige zu kümmern, war im Vergleich damit ein Klacks, und das hatte sie Ewan auch gesagt, als er im Lauf eines ihrer Telefonate meinte, sie hätte das kleinere von zwei Übeln erwischt.

»Übrigens ist es Zeit für Ihre Übungen«, setzte Grace hinzu.

»Ja, ja, später. Martine wartet auf mich. Bis nachher!« Julia stieß mit ihrer Krücke die Tür auf und ging. Eine herrlich kühle Brise wehte von draußen herein - und die Stimme des Sprechers, der in dem Radio, das im Garten lief, die Nachrichten vorlas.

Die Regierung muss noch entscheiden, ob sie dem umstrittenen Transport von MOX-Kernbrennstoff, der von Japan nach Wales unterwegs ist und am Wochenende irische Gewässer erreichen soll, eine Marineeskorte an die Seite stellt... »Rosie! Du bleibst hier!« Natalie packte ihr Kind und schloss die Hintertür mit einem Fußtritt.

»Sag mal, Grace, was war das eigentlich mit dem Haus von diesem Frank?«

»Was meinst du?«

»Na ja - er hat im Hauptbüro angerufen und sich über dich beschwert.« Sie schaute Grace mit runden Augen an. »Du hast doch nicht wirklich gesagt, dass sein Haus scheußlich sei, oder?«

»Doch, das habe ich«, antwortete Grace fröhlich. Nicht einmal Natalies prüfender Blick konnte ihr die Laune verderben. Der Kaftan, den Julia ihr geliehen hatte, mochte ein wenig zu weit sein, doch der Stoff war herrlich leicht und verschleierte die Tatsache, dass sie keinen Büstenhalter trug. (Man schwitzte im Sommer so mit den Dingern, und sie engten einen ein. Sie wusste nicht, wie sie das all die Jahre ausgehalten hatte. Es war wider die Natur.)

Natalie hatte es noch nicht bemerkt, was überraschend war, denn ihrem scharfen Auge entging normalerweise nichts.

Graces Frisur hatte ihr bereits Anlass zur Kritik gegeben. Nun gut, dass sie Graces Achselhöhlen nicht sehen konnte und die herrlich unrasierten Beine unter dem Kaftan. »Kannst du zum Dinner bleiben?«, fragte Grace. »Es ist ein so schöner Abend, dass wir draußen essen werden.«

»Nein«, antwortete Natalie mit einem Blick in den Garten. »Wohnen all die Leute hier im Haus?«

Grace lachte auf. »Großer Gott, nein. Nur Adam und Charlie und Gavin. Und natürlich übernachtet Nick oft hier, seit er und Charlie sich ineinander verliebt haben.« Auch ihr Blick wanderte zu der Gesellschaft auf dem Rasen hinaus. »Martine - die beiden beim Schuppen sind ihre beiden französischen Freunde - und Joey hast du ja schon kennen gelernt. Sie schlafen alle in Zelten da draußen. Wir sehen sie kaum. Julia hat nichts dagegen, dass sie dort kampieren. Überhaupt nichts. Wer sie sind, weiß ich gar nicht, um ehrlich zu sein, aber Adam kennt sie.«

Natalie bedachte sie wieder mit Dem Blick. Na ja, sie war ein wenig erschrocken, als sie vorhin bei ihrer Ankunft zwei New-Age-Typen auf den Stufen Stew essen sah und ein Skelett in einem Rollstuhl, das eine Tony-Blair-Maske trug. Grace hatte ihr erklärt, dass der Rollstuhl Julia gehörte, die ihn nie benutzte, weil ihr die Krücken lieber waren. Wem Tony Blair gehörte, wusste Grace nicht. Offenbar wollten sie ihn bei der Demonstration mitführen. Sie hatte versäumt zu erwähnen, dass das Skelett aus Kunststoff war, fiel ihr ein.

Vielleicht dachte Natalie gerade ebenfalls daran, denn sie stieß plötzlich hervor: »Ich mache mir Sorgen um dich, Grace!«

»Tatsächlich?« Grace hatte natürlich etwas in dieser Art erwartet, aber nicht mit solcher Heftigkeit. Ihre vernachlässigte Frisur und der Kaftan konnten ihre Freundin doch nicht in einem solchen Maß beunruhigen. »Warum?«

»Warum? Weil du nicht mehr du selbst bist!«

»Inwiefern?« Interessiert schaute sie von der Sauce auf, die wie gewünscht einkochte. Bald wäre es Zeit, Nudelwasser aufzusetzen.

»Schau dich doch an! Du stehst barfuß wie Mutter Erde in einer fremden Küche und kochst für eine Bande von Verrückten einen Riesentopf Essen.«

»Wenigstens würdigen sie es«, erwiderte Grace milde.

»Es geht nicht nur um die Kocherei.«

»Sondern? Es sind meine Haare, stimmt‘s?«, kam Grace ihr zu Hilfe. »Ich finde, sie stehen mir so. Ich wirke weicher damit, meinst du nicht auch?«

»Sie sind verfilzt! Und du trägst keinen BH, Grace!« Also hatte sie es doch bemerkt. Natürlich! Draußen im Garten pflückte Adam Basilikum. Er hatte ihre Gedanken gelesen, der Gute. Manchmal war es richtig unheimlich - wie heute früh, als er ihr Tee ans Bett brachte, bevor sie selbst wusste, dass sie welchen wollte! Und gestern Abend, als sie nach dem Essen erwähnte, dass sie Lust auf etwas Süßes habe, war er wortlos verschwunden und eine halbe Stunde später mit einer Riesenpackung Schokosplittereis aus dem Supermarkt zurückgekommen, die er ihr so stolz präsentierte wie eine Katze eine erlegte Maus.

Kein Mann hatte sie je mit so viel Mühe umworben. Na ja, vielleicht Ewan am Anfang ihrer Bekanntschaft. Sie erinnerte sich noch genau daran, dass er vom Radio eine ganze Kassette mit Lovesongs für sie aufgenommen hatte, um ihr deutlich zu machen, was er für sie empfand. Jetzt fragte sie sich, ob er vielleicht nur zu geizig gewesen war, um eine Platte zu kaufen.

Das war natürlich unfair, doch sie ertappte sich neuerdings häufig dabei, dass sie sich auf seine negativen Eigenschaften konzentrierte, um ihr eigenes Verhalten in seiner Abwesenheit zu rechtfertigen: die widerlichen Saug-Schmatz-Geräusche, die er beim Essen machte, zum Beispiel, oder die Art, wie er ihr die Hand aufs Steißbein legte, als wolle er sie anschieben.

Und wie er seit Jahren immer wieder andeutete, dass sie die Jungen mit ihrer Liebe erdrückte! All die kleinen Seufzer, die gen Himmel geschickten Blicke, wenn sie sich fragte, wo sie sein mochten - und da waren sie bereits fünf Stunden überfällig! In dem Fall würde sich doch jeder verantwortungsbewusste Elternteil Sorgen machen! Aber Ewan schaffte es, mit seinen kleinen Blicken und wegwerfenden Bemerkungen auszudrücken, dass sie eine dieser überbesorgten Mütter sei, die manchmal in seinen Werbespots im Fernsehen vorkamen und grundsätzlich veralbert wurden.

Wie in dem Mikrowellen-Spot letztes Jahr, zum Beispiel. Eine hart arbeitende, fürsorgliche Mutter hatte einen gesunden Auflauf für ihre beiden Kinder gemacht, aber die wollten natürlich Chips. Und wer kommt da genau im richtigen Moment zur Küchentür herein? Dad! Er hat die glorreiche Idee, einen Anruf zu arrangieren, um Mum abzulenken, und kaum dreht sie ihnen den Rücken zu, verfüttern die Kids und Dad den Auflauf an den Hund, machen sich in der Mikrowelle drei Riesenportionen Chips und kichern verschwörerisch, während sie sich den Bauch voll schlagen.

Damals war es Grace nicht aufgefallen, doch jetzt erkannte sie, dass das Drehbuch sich an ihrem Leben zu Hause orientiert hatte. Ihrem gemeinsamen Leben zu Hause, in dem Ewan und die Jungen gegen die langweilige, überfürsorgliche Mum konspirierten. Die Frau in dem Spot hatte ihr sogar ähnlich gesehen! Oh, sie hatte sich noch nie so verraten gefühlt - und das von ihrer eigenen Familie! So benutzt, so der Lächerlichkeit preisgegeben! Die drei saßen in diesem Moment wahrscheinlich in irgendeinem Fastfood-Schuppen, stopften sich mit doppelten Cheeseburgern voll und lachten darüber, wie entsetzt Mum wäre, wenn sie sie jetzt sehen könnte. Sollten sie ruhig! Sollten sie doch durch ihre fettverklebten Adern von Herzinfarkten dahingerafft werden! Sie würde nicht länger ihr Hüter sein!

Plötzlich hob Adam den Kopf und lächelte aus dem Kräutergarten zu ihr herüber. Es war ein Lächeln, das so viel Achtung und Wärme und Zuneigung ausdrückte, dass sie sich am liebsten wie eine Katze zusammengerollt und geschnurrt hätte. Er würde niemals fettigen Chips den Vorzug vor einem ihrer gesunden Aufläufe geben. Als sie sich vom Fenster abwandte, sah sie, dass Natalie sie triumphierend betrachtete. »Siehst du? Genau das meine ich!«

»Was?«

»Es ist, als lebtest du in einer eigenen, kleinen Welt. Du schaust lieber verträumt aus dem Fenster, als mit mir zu reden.«

»Das stimmt nicht.« Obwohl die Aussicht durchaus sehenswert war.

»Nein? Ich habe dir von den vielen Einsparungsmaßnahmen im Hauptbüro berichtet, mich nach Franks Haus erkundigt und dir sogar erzählt, dass Liam das neue Mädchen aus der Buchhaltung bumst. Und du benimmst dich, als interessiere dich das alles nicht mehr.«

»Ich habe Urlaub, Natalie. Vielleicht will ich einfach nicht über die Arbeit sprechen.«

Natalie ließ sich nicht besänftigen. »Du willst auch nicht über Babys sprechen. Und du willst mir auch nicht sagen, was ich zu Pauls Vierzigstem arrangieren soll.«

»Ich habe dir mehrere Vorschläge gemacht.«

»Ja!«, schnaubte sie. »Eine Party in Stonehenge, zum Beispiel.«

»Eins von den Mädchen da draußen sagte, es sei ein echtes Erlebnis. Und nicht teuer.«

Natalie schaute sie an, als habe sie den Verstand verloren. Grace wusste, wenn sie sie nicht beruhigte, würde sie in der Firma herumerzählen, dass ihre Freundin einen Nervenzusammenbruch habe.

»Hör zu, Natalie - ich nehme mir nur die Freiheit zu entspannen. Mein Leben zu überdenken. Mir eine Auszeit zu genehmigen. Das ist kein Verbrechen - es ist sogar höchst gesund. Du solltest es auch mal versuchen.«

»Ach, hör auf!«, rief Natalie. »Du hast eine Dummheit gemacht, nicht wahr?«

»Was?«

»Schau mich nicht so an! Du hast mir doch vor ein paar Wochen am Telefon gesagt, dass du mit dem Gedanken spieltest.«

»Das war ein Witz.«

Natalie musterte sie misstrauisch. »Hast du eine Affäre, Grace?«

Grace lachte auf. Es klang sehr überzeugend. »Wohl kaum«, antwortete sie.

»Was ist es dann?«, bohrte Natalie. »Hast du dich etwa der Gang da draußen angeschlossen?«

»Wen meinst du?«

Natalie deutete mit dem Daumen in Richtung Rasen. »Die Kapitalismusgegner.«

»Sie sind Atomkraftgegner«, stellte Grace klar. Die meisten der Gruppe waren allerdings auch Kapitalismusgegner. Und Vegetarier. Es bei den Mahlzeiten allen recht zu machen, stellte eine echte Herausforderung dar. Natalie beugte sich mit ernster Miene vor und begann mit den Unheil verheißenden Worten: »Bitte fass es nicht als Kränkung auf, was ich dir jetzt sage.«

»Werde ich nicht«, versprach Grace.

»Ich weiß, dass du manchmal das Gefühl hast, zu früh geheiratet zu haben. Dich nicht ausgetobt zu haben. Und ich bin sicher, dass all das hier ...«, sie wedelte mit der Hand angewidert in die Richtung von Graces nackten Füßen, »... ein Versuch ist nachzuholen, was du in deiner Jugend versäumt hast... lachst du mich aus?«

»Nein, nein. Bitte sprich weiter.«

»Ich will dir nur klar machen, dass du andere Möglichkeiten hast, dich selbst zu verwirklichen. Erfüllung zu finden.«

»Wie einen Malkurs, zum Beispiel?«

»Du darfst nicht von einem Extrem ins andere fallen«, ignorierte Natalie ihren Einwurf. »Ich bin sicher, was die jungen Leute tun, ist... lobenswert, aber es wäre doch ein Jammer, wenn du später mit Bedauern auf diesen Abschnitt deines Lebens zurückschautest.«

»Ich habe nicht die Absicht, etwas zu bedauern«, erwiderte Grace entschieden.

Natalies Beunruhigung steigerte sich. »Wenn du schon nicht an dich selbst denkst, dann denk doch wenigstens an deine Jungs! Sie sind in diesem Alter sehr empfindsam. Du möchtest doch nicht, dass sie sich deiner schämen, oder?«

»Dieses Kind liegt längst im Brunnen. Sie schämen sich meiner bereits. Es lebe die Revolution!« Rosie klatschte begeistert in ihre Patschhändchen und gurgelte vergnügt. Natalie verdrehte die Augen, und Grace konnte nur mit Mühe ihr Lächeln verbergen. Sie hatte den letzten Satz bloß gesagt, um ihre Freundin vollends auf die Palme zu bringen.

Aber es war nicht fair, sie so zu piesacken. Natalie sorgte sich um sie. Auf ihre Weise. Grace konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie selbst noch vor ganz kurzer Zeit die gleichen starren Ansichten vertreten hatte.

»Reg dich nicht auf, Natalie. Ich mache ja nicht mit bei ihrer Demonstration. Ich habe überhaupt nichts mit ihnen zu tun, wenn du es genau wissen willst - außer dass ich hin und wieder für sie koche. Mich für die Kampagne zu engagieren, wäre mir viel zu anstrengend.« Es war bedeutend angenehmer, in der Nachmittagssonne mit einem der Gartenbücher, die Julia ihr empfohlen hatte, draußen auf dem Rasen zu liegen. Sie hatte gestern ihre ersten Tomaten gepflanzt, und diese Großtat war mit einer Flasche Wein gefeiert worden. Als die Revolutionäre verschwitzt und erschöpft aus der Stadt zurückgetrottet kamen, fanden sie Grace schlafend in einem Liegestuhl vor, wo sie mit offenem Mund Fliegen fing. Was tust du für unsere Sache?, hatte Adam gefragt. Gar nichts, hatte Grace fröhlich geantwortet.

»Wie geht es Ewan und den Jungen?«, wechselte Natalie schließlich das Thema.

»Die amüsieren sich göttlich. Am Sonntag kommen sie nach Hause.«

»Weiß er, dass du nicht zu Hause bist?«

»Wer?«

»Ewan.«

»Natürlich weiß er, dass ich vorübergehend hier wohne, um mich um Mrs Carr zu kümmern.«

»Stört ihn das nicht?«

»Warum sollte es? Er ist doch auch nicht zu Hause, wenn ich daran erinnern darf.«

»Kein Grund, aggressiv zu werden, Grace«, sagte Natalie beleidigt. »Ich habe eine ganz normale Frage gestellt.« Adam kam mit dem Basilikum herein, honigfarben und mit nacktem Oberkörper. Er sah so gesund aus wie eine Milchreklame.

»Hallo, Natalie.« Er hatte sich ihren Namen gemerkt.

»Hallo, Adam«, erwiderte sie den Gruß mit einem koketten Augenaufschlag. Also wirklich! Bei einem so gut aussehenden Mann war sie offenbar bereit, ihre Abneigung gegen »diese Art von Leuten« zu vergessen.

»Und wen haben wir hier?« Adam beugte sich zu Rosie hinunter, deren flinke Finger sofort nach einer seiner Dreadlocks grapschten.

»Rosie«, erklärte Natalie voller Stolz. »Sie ist zwei. Sag Hallo zu Adam, Rosie!« Aber Rosie weigerte sich. Sie weigerte sich überhaupt zu sprechen, was Natalie Sorgen ohne Ende bereitete.

»Entschuldigt mich«, murmelte Grace und trug das Basilikum zum Spülbecken. Es war besser, Adams Nähe zu meiden, denn sie hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt, und das würde ihr im Büro unerwünschte Berühmtheit verschaffen.

Sie unterdrückte ein Kichern, und wieder richtete sich Natalies Blick auf sie.

»Ich sagte gerade zu Grace, dass sie allmählich daran denken sollte, nach Hause zu fahren«, meinte Natalie zu Adam, als sei Grace gar nicht da. Jetzt verstand Grace, was Julia gemeint hatte, als sie sagte, sie fühle sich, seit sie sechzig sei, als wäre sie unsichtbar.)

»Du hast nichts dergleichen gesagt«, protestierte sie.

»Aber ich habe es gedacht! Ich kam nur nicht dazu, es auszusprechen.« Natalie wandte sich wieder Adam zu. »Mrs Carr scheint schon ganz die Alte zu sein.«

»Abgesehen von den Nägeln in ihrem Fuß«, warf Grace ein. »Und den Krücken.«

»Muss Grace denn wirklich noch hier bleiben?«, fragte Natalie. »Mrs Carr ist ungefährlich - aber diese Anti-Atomkraft-Gang da draußen auf dem Rasen ...«

»Ich bin ein Mitglied dieser ›Gang‹«, sagte Adam.

»Oh - ja, natürlich!« Um ihren Lapsus wieder gutzumachen, lächelte Natalie ihn strahlend an. »Dann erzählen Sie mal. Was tun Sie eigentlich? Flugblätter verteilen und so was alles?«

»Flugblätter sind selbstverständlich ein Vehikel unserer Kampagne.« Adams Ton war nicht mehr freundlich.

Natürlich verstand Natalie den Wink nicht. »Auf der Uni hab ich auch mal bei so was mitgemacht. Weißt du noch, wie ich dir davon erzählte, Grace? Wir haben uns totgelacht!«

»Sie haben sich über atomare Abrüstung totgelacht?«, fragte Adam. Seine Wangen waren leicht gerötet.

Grace begann leise »I‘m in the Mood for Dancing« zu summen. »Bei uns ging es mehr um Bäume. Darum, die multinationalen Konzerne zu bewegen, damit aufzuhören, sie zu fällen, um Cornflakesschachteln daraus zu machen. Oder Haushaltspapier. Das war zu unserer Zeit das große Thema. Für ein einziges Blatt Haushaltspapier mussten fünf Bäume dran glauben oder so.« Sie runzelte die Stirn. »Halt mal das erscheint mir aber sehr viel. Vielleicht wurden auch aus einem Baum fünf Tücher gemacht? Und eine Cornflakesschachtel? Ach, ich weiß es nicht mehr. Setzt ihr euch auch für Bäume ein oder nur für dieses Atomzeugs?«

Grace hatte das Gefühl, als sehe sie eine Schmeißfliege in den Aktionsradius einer zusammengerollten Zeitung geraten. Aber Natalie redete manchmal wirklich einen haarsträubenden Unsinn. Andererseits war Adam so schrecklich idealistisch. Graces erster Impuls war dazwischenzugehen. Sie hätte am liebsten gebieterisch die Hand gehoben und die beiden mit einem »Ich dulde in diesem Haus keine Streiterei!« auf ihre Zimmer geschickt, damit sie sich beruhigten.

Aber in Mrs Carrs Haus spielte sie nicht die Mutterrolle. Sie war nicht sicher, welche Rolle sie spielte, aber sie beinhaltete nicht, Meinungsverschiedenheiten anderer Leute zu schlichten, und so griff sie stattdessen nach dem Schneidbrett.

»Nein, wir setzen uns nicht für Bäume ein«, antwortete Adam hinter ihr. »Wir sind vollauf mit dem Versuch beschäftigt, die Stilllegung eines weniger als hundert Meilen von Ihrer Hintertür entfernten Reaktors durchzusetzen. Denn wenn es dort einen Unfall oder eine Explosion gibt und der Wind in die falsche Richtung weht, besteht eine reelle Chance, dass Sie in zwanzig Jahren an Krebs erkranken oder die kleine Rosie Schilddrüsenprobleme oder Leukämie bekommt und später behinderte Kinder. Natürlich nur, wenn sie lange genug lebt.«

Tödliche Stille folgte seinen Worten. Grace warf verstohlen einen Blick über die Schulter. Natalie war kreidebleich geworden und drückte ihr Kind so fest an sich, dass die Kleine zu wimmern begann.

»Willst du wirklich nicht zum Essen bleiben, Nat?«, fragte Grace freundlich. »Es ist reichlich da.«

»Ich kann nicht.« Natalie stand auf. »Wenn Rosie nicht ihren gewohnten Ablauf hat, macht sie Terror.«

»Okay.« Grace folgte ihr zur Küchentür. »Du lässt es mich wissen, wenn irgendwas ist, ja? Wenn das Baby zu früh kommt oder so.«

»Warum sollte das Baby zu früh kommen?«, fragte Natalie alarmiert. »Was bringt dich auf die Idee, dass es zu früh kommen könnte?« Sie schaute sich nach Adam um, als fürchte sie, dass er sie mit einem Fluch belegte. Er grinste nur gehässig.

»Ich finde schon selbst raus«, sagte sie zu Grace und floh regelrecht aus dem Haus.

»Das war nicht besonders nett von dir«, sagte Grace, als sie mit Adam allein war. »Sie ist eine Idiotin.«

»Sie ist keine Idiotin. Sie ist nur nicht so fanatisch gegen Atomkraft wie du.«

»Das ist eine himmelschreiende Untertreibung. ›Auf der Uni hab ich auch mal bei so was mitgemacht‹!« Seine Imitation war sensationell. »Ich kann Frauen wie sie nicht ausstehen. In ihrem Leben gibt es nichts außer ihrem Job, ihrem Mann und ihren Kindern, die zu wohlgenährt und verwöhnt sind, um sich darum zu scheren, wie es in der realen Welt zugeht.« Grace schwieg.

»Damit meine ich natürlich nicht dich«, beeilte er sich zu beteuern.

»Nur gut, dass ich ein dickes Fell habe.«

Er schaute sie entsetzt an. »Das hast du doch gar nicht. Sie hat ein dickes Fell. Du hast überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihr.«

»O doch«, widersprach Grace. »Ich bin ihr in vieler Hinsicht sogar sehr ähnlich. Und vor drei Wochen machte es dir auch noch großen Spaß, mir diese Seiten meiner Persönlichkeit vorzuhalten.«

»Warum musst du immer wieder davon anfangen?«

»Tu ich gar nicht. Ich habe es nur jetzt mal erwähnt.«

»Aber jetzt halte ich es dir nicht vor.«

»Und warum nicht? Ich habe mich nicht geändert - und am kommenden Sonntag kehre ich zu all dem zurück.«

Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen. Sie lebten so unbeschwert damit, dass sie so taten, als existiere diese andere Welt nicht. Aber Adam musterte sie nur mit seinen leuchtend blauen Augen. Manchmal, wenn sie lange hineinschaute, fing sie verträumt an zu schwanken. »Das ist doch nur Show«, sagte er.

»Du bezeichnest mein Leben als Show?«, fragte sie gekränkt.

»Das bist du doch nicht. Nicht wirklich. Ich kenne dein wahres Ich.«

»Jetzt, nachdem du gekommen bist, um mich zu retten. Nachdem du mich korrumpiert hast.«

»Ja«, bestätigte er und lächelte so stolz wie ein Lehrer, der es geschafft hat, einem begriffsstutzigen Schüler etwas beizubringen. »Du kannst mich nicht täuschen, Grace. Ich habe deinen Kern gesehen.«

»Oh.«

Einerseits war das unglaublich schmeichelhaft. Bisher hatte sich niemand die Mühe gemacht, sich mit ihrem Kern zu befassen. Nicht einmal sie selbst. Es war ihr gar nicht klar gewesen, dass sie einen hatte. Doch nun, nachdem er sie darauf aufmerksam gemacht hatte, kam sie sich kompliziert vor und interessant und geheimnisvoll. Wieder ein kleines Geschenk von Adam.

Doch manchmal stieg ein nervöses Kichern in ihrer Kehle hoch, denn er konnte sie doch nicht in allem Ernst so phantastisch finden, oder? Letzte Woche hatte er gesagt, ihr Verstand sei der schärfste, der ihm seit langem begegnet wäre (und da hatte sie das Kichern rausgelassen). Und nur, weil sie das Kreuzworträtsel in der Irish Times in zwölf Minuten gelöst hatte! Er war tödlich beleidigt gewesen über ihren Heiterkeitsausbruch und hatte ihr erklärt, dass er niemanden in Irland kannte, der es so schnell schaffte. Damit gab er ihr das Gefühl, wirklich ungeheuer intelligent zu sein, und sie hatte sich vielmals bei ihm entschuldigt und sich gefragt, ob sie als Immobilienverkäuferin vielleicht total unterfordert sei. Vielleicht würde sie sogar wieder studieren. Das wäre ein ganz schöner Tiefschlag für Ewan! Natürlich glaubte sie nicht alles, was Adam sagte. Aber er tat es, und sie liebte ihn dafür. Es war mehr als Schmeichelei. Es war eine Art Nahrung, und ausgehungert wie sie war, schlang sie sie gierig runter.

»Woran denkst du?«, fragte er. Er wollte ständig wissen, woran sie dachte, fragte sie mindestens zehnmal am Tag danach.

»An Sex«, antwortete sie ehrlich.

»Du denkst immer an Sex!«

»Stimmt. Findest du das seltsam?«

»Ich komme mir manchmal wie ein Stück Fleisch vor«, beschwerte er sich.

»Okay«, sagte sie. »Ich denke an dich. Ist das besser?« Sie dachte ziemlich viel an ihn. Für gewöhnlich im Zusammenhang mit Sex - aber es war ja nicht nötig, ihm das zu verraten. Sie hatte festgestellt, dass er extrem empfindlich reagieren konnte.

»Ja.« Er legte den Arm um sie, und sie musste sich beherrschen, um nicht einen gutturalen Urlaut auszustoßen, wie es die Tennisspieler taten, wenn sie einen Ball übers Netz droschen.

»Und was genau denkst du da?«, hakte er nach.

Der Drang zu grunzen erstarb. »Ich dachte gerade darüber nach, wie lieb du zu mir bist. Wie gut wir miteinander auskommen. Wie schön du dich ohne T-Shirt anfühlst.«

»Da hast du‘s - schon wieder Sex! Ich versuche ein ernsthaftes Gespräch mit dir zu führen.«

»Bitte, bitte nicht ernsthaft sein!«, flehte sie. »Ich will das nicht. Ich kann es auch gar nicht mehr.« Und das stimmte. Seit sie mit Adam zusammen war, schwebte sie auf einer Wolke der Seligkeit, wo es, wie im Märchenland, keine bösen Gedanken oder Menschen gab, keine Rechnungen, Steuern (oder Ehemänner). Anders ausgedrückt, sie befand sich im Ausnahmezustand einer Urlaubsromanze, in der Leidenschaft und Zärtlichkeit und die heiße Augustsonne regierten. Und sie würde ganz selbstverständlich enden, bevor einer die abstoßenden Badezimmer-Gewohnheiten oder die Spielsucht des anderen entdeckte. Sie konnte sich nicht erinnern, schon jemals so unbeschwert glücklich gewesen zu sein.

»Ich möchte aber ernsthaft sein«, sagte Adam.

»Wirklich?«

Er wollte etwas sagen, doch dann lächelte er stattdessen. »Du hast keinen Grund, dich zu fürchten, Grace.«

»Ich fürchte mich nicht.«

»Ich weiß, worum es hier geht«, sagte er.

»Um dich«, erwiderte sie. »Und mich.«

»Um dich und mich«, wiederholte er und vergrub seine Nase in ihren Haaren, die, wie ihr dabei einfiel, seit einer Woche nicht gewaschen waren. Adams aber auch nicht. Grace hatte völlig vergessen gehabt, wie ein menschlicher Körper roch, wenn der Geruch nicht täglich durch Shampoo, Duschgel und Parfüm zugedeckt wurde. Er roch nach Moschus und nach Hefe, ganz und gar nicht unangenehm - zumindest Adams Körper. Sie war Martine noch nicht nahe genug gekommen, um festzustellen, wie ihrer roch, und hatte es auch nicht vor. Martine hatte ihre Haare seit Weihnachten nicht gewaschen, denn sie vertrat die Ansicht, dass Haare, die man in Ruhe ließ, sich selbst reinigten. Ihr Zustand bestätigte diese Theorie allerdings nicht.

Grace verbannte Martine aus ihren Gedanken. »Gehen wir nach oben«, sagte sie.

»Die Bullen sind wieder da«, zischte Julia.

Sie stand im Schuppen und sah durch das winzige Fenster auf der anderen Straßenseite einen Streifenwagen anhalten.

Zwei uniformierte Polizisten starrten zu den jungen Leuten herüber, die vor dem Haus auf dem Rasen saßen. Martine runzelte die Stirn. »Wir nennen sie nicht ›Bullen‹, Julia. Das mögen sie nicht.«

Sie waren so korrekt, diese Atomkraftgegner. Julia schaute genauer hin.

»Es sind zwei neue!«, verkündete sie aufgeregt. Für gewöhnlich kamen Sergeant Daly und der Grünschnabel Paul OToole von der Garda. Sie parkten immer im Schatten der großen Ulme, und irgendwann brachte Julia ihnen Tee und einen Teller mit Feigenbrötchen. Sie protestierten zwar jedes Mal, sie seien im Dienst und dürften es nicht annehmen, doch sie ließ ihnen das Tablett trotzdem da. Aber zwei Polizisten von auswärts? Und nach achtzehn Uhr?

»Feldstecher!«, rief sie. »Einer von ihnen hat einen Feldstecher - und er richtet ihn aufs Haus!« Martine schaute nicht einmal auf. Sie war offenbar an Belästigungen durch die Polizei gewöhnt und bemalte ungerührt weiter das Transparent in großen, roten Buchstaben mit dem Wort MOX. Julia hatte bereits das Bild eines Totenschädels darauf gebügelt.

»Ich weiß überhaupt nicht, was die hier wollen«, sagte Martine verstimmt. »Wir sind eine friedliche Organisation.«

»Zumindest bis Samstag«, schränkte Julia genussvoll ein. In ihrer Phantasie sah sie Sondereinsatztruppen der Polizei und Schlagstockangriffe und junge Leute, die sich an Absperrungen ketteten und »We Shall Overcome!« sangen.

»Ich hab‘s Ihnen doch schon gesagt.« Martine seufzte. »Wir werden bei dem Festival keinen Ärger provozieren. Wir wollen nur deutlich machen, was wir von Atomreaktoren halten.« Mit einer verachtungsvollen Kopfbewegung in Richtung der Polizei fuhr sie fort: »Sie haben nicht den geringsten Grund für diese ... diese Spioniererei. Es ist wirklich die Höhe! Eine Missachtung unseres Grundrechts, in einer demokratischen Gesellschaft friedlich zu demonstrieren .«

»Ja, ja«, sagte Julia. Martine konnte sich sehr ereifern, wenn es um ihre Rechte ging. Auch die anderen da draußen auf dem Rasen schienen bestens über ihre Rechte Bescheid zu wissen und darüber, was sie vom Gesetz her durften und was nicht. Was ja sehr lobenswert war, dachte sie hastig. Sie hätte nur gern ein wenig mehr Action gehabt. Wie bei den Demonstrationen in den Sechzigern. Freie Liebe! Weg mit der Bombe! Die wussten damals, wie man Unruhe stiftet, und sie scherten sich den Teufel um das Gesetz. Die Musikfestivals waren früher auch ganz anders gewesen, dachte sie. Woodstock, zum Beispiel. Das war ein richtiges Musikfestival gewesen, mit massenweise Alkohol und verbotenen Substanzen und schlechtem Essen. Nicht wie heutzutage, wo sie Fünfsternetoiletten hatten und Hochglanzprogramme und Imbisswagen chinesisches Essen verkauften, wie sie gehört hatte.

Aber wenigstens würde es schmutzig werden. Das hatte Martine ihr versprochen. Richtig schmutzig. Fünfzigtausend Menschen, die zwei Tage auf einem Hügel herumtrampelten, produzierten zwangsläufig Massen von Schmutz. Aber es würde warmes Essen geben und Bücher zum Lesen, falls Langeweile aufkäme. Einer von ihnen würde sogar eine Kaffeemaschine mitbringen!

Wie auch immer. Das Wichtigste war, dass sie sie einbezogen. Sie war ein Mitglied der Truppe, ein wichtiges Mitglied - keine alte Schachtel mit einem lahmen Fuß, die allen nur auf die Nerven fiel.

Martine hatte ihr Kunstwerk zu Ende gebracht und hielt das Transparent stolz hoch: »Wie finden Sie‘s?«

»Phantastisch!«, lobte Julia und dachte, dass es noch viel phantastischer wäre, das Ding während der Festivaleröffnung anzuzünden. Doch offenbar waren Feuer aus der Mode. Ebenso wie faule Eier, matschiges Obst und die Entführung eines Imbisswagens. (Wenn sich damals zu ihrer Zeit eine Gruppe als »friedlich« bezeichnete, hieß das gar nichts.)

In Wahrheit fand sie das Transparent ein wenig amateurhaft. Jedenfalls war es nicht mit den wunderbaren Plakaten zu vergleichen, die Adam mitgebracht hatte. Sie stammten von einer früheren Demonstration, die offenbar mit mehr Geldmitteln finanziert worden war als die jetzt geplante.

Aber, dachte sie schuldbewusst, Äußerlichkeiten waren nicht alles.

Es klopfte. Sie stemmte sich an der Schuppentür hoch und zischte: »Wer ist da?«

»Mammy?«

Julia unterdrückte einen Seufzer und machte auf. Michael trat ein und blinzelte ein paarmal wie eine Eule, während seine Augen sich auf das Dämmerlicht einstellten.

»Ich hatte dich heute nicht erwartet«, sagte sie.

Ihr Sohn war im Straßenanzug, kam also offenbar aus dem Büro. »Ich dachte, ich schaue auf dem Heimweg vorbei und wie sich zeigt, war das eine gute Idee! Mammy - ich muss darauf bestehen, dass du augenblicklich mit mir ins Haus hinübergehst!«

Dass er sie wie ein ungezogenes Kind behandelte, erboste sie. »Geh schon mal vor. Ich komme nach, wenn wir hier fertig sind.«

»Wo steckt Grace?«, wollte Michael wissen. »Im Haus ist sie offenbar nicht.«

»Ich habe keine Ahnung, wo sie ist. Du stehst auf unserem Transparent, Michael!«

»Sie schießt dich in den Fuß, und dann kümmert sie sich nicht einmal ordentlich um dich!«

»Grace kümmert sich ausgezeichnet um mich, aber ab und zu hat sie Anspruch auf ein wenig Freizeit.«

Matt gesetzt appellierte er an Martine: »Meine Mutter ist dreiundsiebzig! Sie ist verletzt! Sie sollten sie nicht für Ihre Zwecke einspannen!«

Martine musterte ihn abschätzig von oben bis unten. »Sie macht freiwillig mit. Könnten Sie jetzt bitte gehen? Sie stehen im Weg.«

Michael zitterte regelrecht vor Empörung. »Ich gehe nur, wenn meine Mutter mitgeht!«

»Michael...«

»Nein, Mammy! Genug ist genug. Ich habe lange genug geschwiegen und dir deinen Willen gelassen. Ich habe geduldet, dass du diese Leute in deinem Haus aufnahmst, mit ihnen Transparente maltest und dich aufführtest wie ein Hippie. Aber jetzt reicht es. Da draußen steht ein Streifenwagen, um Himmels willen!«

»Das wissen wir«, antwortete Julia seelenruhig.

»Es ist an der Zeit, deine Mitarbeit an dieser lächerlichen... Kampagne einzustellen - wenn man diese Aktion überhaupt so bezeichnen kann.«

»Was soll das heißen?«, fuhr Martine ihn zähnefletschend an.

Michael, der nicht an offene Aggressivität gewöhnt war, wich einen Schritt zurück und wandte sich wieder an Julia: »Ich weiß nicht, warum du ständig ›wir‹ sagst. Du gehörst doch nicht zu diesen Verrückten!«

»O doch, das tue ich!«, widersprach sie stolz und wurde von Martine mit einem Solidaritätsnicken belohnt. Michael schnaubte ungläubig. »Du wusstest doch nicht einmal, was MOX bedeutet, bevor diese Horde bei dir einfiel.«

»Das mag sein - aber jetzt weiß ich es«, gab Julia scheinbar souverän zurück, aber insgeheim hoffte sie inständig, dass ihr Sohn nicht weiter versuchen würde, sie in Martines Gegenwart in Verlegenheit zu bringen. Doch Martine war mit ihren Gedanken offenbar woanders. Sie schaute auf ihre Uhr und sagte dann: »Mann, schon so spät! Kein Wunder, dass ich am Verhungern bin. Ich werde Grace suchen gehen, damit was zu essen auf den Tisch kommt.«

»O ja«, geiferte Michael. »Es geht doch nichts über ein kostenloses Abendessen. Oder Mittagessen. Oder Frühstück.«

Martine trat drohend einen Schritt auf ihn zu. Diesmal ließ er sich nicht einschüchtern. »Ich durchschaue eure Taktik. Ihr lasst sie ein bisschen bei euch mitspielen, damit ihr nichts für Kost und Logis berappen müsst.«

»Michael!« Julias Ton war scharf wie ein Messer. »Es reicht!«

Mit einem hasserfüllten Blick drängte Martine sich an ihm vorbei und verschwand.

»Ich muss dich wohl daran erinnern, dass dieses Haus mir gehört, Michael«, sagte Julia. »Und du wirst meinen Gästen mit Respekt begegnen.«

»Gästen!«

»Ja, Michael.«

»Du machst dich zum Narren, Mammy!«

Julia nahm Martines Pinsel in die Hand und begann, an dem Schriftzug herumzutupfen. »Warum? Weil ich mich engagiere?«

»Wegen eines Atomtransportes aus China?«

»Japan. Nicht mal das weißt du.«

»Bis vor kurzem wusstest du es auch nicht.«

»Na und?«, begehrte sie auf. »Warum fällt es dir eigentlich so schwer zu glauben, dass ich hierbei mitmache, weil ich es so will?«

»Weil du und Daddy euch nie um Umweltthemen scherten! Weißt du noch, wie er damals mit dem Bulldozer das denkmalgeschützte Gebäude niederwalzte? Und du hattest einen Nerzmantel. Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich wegen der fünfzig Nerze gegrämt hättest, die dafür ihr Leben lassen mussten, dass du gut aussahst.«

»Rückblickend bin ich ganz und gar nicht stolz darauf, okay?«, erwiderte Julia von oben herab. »Aber Menschen ändern sich. Können wir es dabei belassen?«

»Nein.« Er plusterte sich auf. »Ich habe heute nach Informationen über diese Martine und ihre Freunde gesucht - im Internet, telefonisch bei den großen Anti-Atomkraft-Organisationen und im Telefonbuch.«

»Dann war wohl nicht viel los im Büro.«

»Und jetzt rate mal! Sie sind eine Mickey-Mouse-Truppe, die von Ort zu Ort tingelt und eine bescheuerte Message verkündet und auf die Großzügigkeit von Menschen wie du baut. Offiziell existieren sie gar nicht.«

»Weil sie nicht in irgendeinem angeblich wichtigen Register aufgeführt sind? Weil ihr Manifest nicht auf teurem Papier gedruckt steht? Vielleicht ist es ihnen einfach wichtiger, unsere Insel vor der atomaren Auslöschung zu bewahren.«

»Die könnten keine Fliege retten«, gab Michael verächtlich zurück. »Mit ihren handbemalten Transparenten und Zelten wirkten sie doch wie eine Horde Kinder, die Buntstifte in die Finger gekriegt haben.«

»Halt den Mund, Michael. Halt einfach den Mund!«

Sie wollte nicht, dass er mit seinen bohrenden Fragen und der zynischen Behauptung, dass sie nur ausgenutzt werde, alles verdürbe. Zum ersten Mal seit JJs Tod war wieder Leben im Haus, hatte sie morgens wieder einen Grund, um aufzustehen. Es spielte doch überhaupt keine Rolle, dass sie vorher nicht gewusst hatte, was MOX bedeutete. In einem Moment überwältigender Hoffnungslosigkeit hatte ein Engel ihr Adam und Martine und Joey geschickt - wildfremde Menschen -, die in ihrer Pension Quartier nahmen. Natürlich bezahlte keiner von ihnen dafür, doch das durfte man auch nicht erwarten. Schließlich waren sie vollauf damit beschäftigt, die Welt zu retten. Julia empfand es als ihre moralische Pflicht, die jungen Leute in ihrem Anliegen zu unterstützen, so gut sie konnte, und es kümmerte sie nicht im Geringsten, dass sie keiner etablierten Gruppe angehörten. Martine sagte, die großen Organisationen seien reine Verwaltungsapparate, und Julia wollte nicht an einem Schreibtisch mit irgendwelchen Papieren rascheln - sie wollte da draußen mitmischen und etwas bewegen.

Michael sah offenbar ein, dass jedes weitere Wort zu diesem Thema vergebens wäre, denn er sagte: »Ich bin auch noch aus einem anderen Grund hergekommen, Mammy.« Er hielt ihr ein weißes Kuvert hin. »Das ist von Gillian.« Der Name allein genügte, dass Julia sich die Nackenhaare sträubten.

»Was ist das?«, fragte sie, doch sie nahm den Umschlag nicht.

»Du weißt, dass sie ehrenamtlich für die örtliche Tinnitusgruppe arbeitet?«

Julia schaute ihn verständnislos an.

»Pfeifen in den Ohren. Sie dachte einmal, sie hätte es auch, aber es war nur der neue Teekessel, den wir gekauft hatten ...«

»Ach ja, ich erinnere mich.«

»Jedenfalls veranstaltet sie morgen ein Wohltätigkeitsfrühstück, und das hier ist deine Einladung dazu.« Er streckte ihr das Kuvert noch näher hin.

»Sie hat sehr verletzende Dinge zu mir gesagt, Michael.«

»Ich weiß, ich weiß - aber sie hatte schon so viel Arbeit in den Umbau gesteckt...«

»Ohne vorher mit mir darüber zu sprechen.«

»Ja, das war ein Fehler. Die Dinge, die sie gesagt hat - können wir das nicht einfach alles vergessen?«

Gillian könnte das vielleicht von heute auf morgen - aber Julia würde viel Zeit brauchen, um jenen Tag zu vergessen.

»Was hat sie damit gemeint, Michael, als sie sagte, sie dächte nicht daran, in JJs Fußstapfen zu treten?«

»Ich habe keine Ahnung.« Sein rotes Gesicht spiegelte Unbehagen wider.

»Ich erwarte das alles nämlich gar nicht, weißt du, diese ständigen Besuche und diese Überfürsorge und diese unentwegten Anrufe. Nicht, dass ich es nicht zu schätzen wüsste«, setzte sie hastig hinzu, »aber es ist nicht nötig.«

»Vielleicht möchte ich es ja«, sagte er.

»Das ist sehr lieb von dir. Doch ich will nicht, dass du darüber dein eigenes Leben vernachlässigst. JJ ist nicht mehr da, und ich muss lernen, wieder allein zu leben. Im Moment habe ich ja Grace und Martine und die anderen zur Gesellschaft.«

Sie hatte damit den Druck von ihm nehmen wollen, aber er schaute sie ganz merkwürdig an und sagte: »Du verstehst es immer, mich aufzubauen, Mammy.«

»Was?«

Er antwortete nicht, sondern wandte sich zum Gehen. »Kann ich Gillian ausrichten, dass du kommen wirst?«

»Ich glaube nicht. Im Moment jedenfalls noch nicht«, milderte sie ihre Absage, um das Versöhnungsangebot nicht zur Gänze zurückzuweisen. Doch sie hatte den morgigen Tag bereits völlig verplant. Sie müssten dringend beraten, wie sie die Transparente und Zelte auf das Festival schmuggeln könnten. Die Sicherheitsleute würden auf der Hut sein. Adam hatte vorgeschlagen, einen Lastwagen zu mieten und damit einfach durch den Zaun zu brechen, was Julia sehr gefallen hätte. Aber Martine sagte, es müsse ohne Gewalt abgehen. Wie langweilig!

»Das wird sie tief kränken«, sagte Michael.

»Ich bin sicher, sie wird es überleben«, erwiderte Julia und verbannte die Angelegenheit aus ihren Gedanken.